Filmkritik: Martha Marcy May Marlene

Martha Marcy May MarleneSean Durkins Kinodebut „Martha Marcy May Marlene“ lief letztes Jahr mit einigem Erfolg auf drei großen Filmfestivals, in Sundance, Cannes und Toronto. Durkin hat dabei nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben. Der Film handelt von einer jungen Frau namens Martha (Elizabeth Olsen), die irgendwo im Nordosten der USA auf einer Farm lebt. Sie lebt dort allerdings nicht alleine oder mit ihrer Familie, sondern mit einer Sekte. Deren Anführer ist der  charismatische Patrick (John Hawkes). Gleich zu Beginn des Films flieht Martha von der Farm und kommt bei ihrer Schwester Lucy (Sarah Paulson) und ihrem Mann Ted (Hugh Dancy) unter.

Die Handlung entfaltet sich fortan auf zwei Ebenen. In der Gegenwart hat Martha große Probleme, ihre Zeit in der Sekte hinter sich zu lassen. Immer wieder schweift sie in schlimme Erinnerungen ab und fällt in merkwürdige Verhaltensmuster zurück – hier greift der Film den Faden auf und erzählt in Rückblenden von ihrer Zeit auf der Farm, in der sie von Patrick in Marcy May umgetauft wurde (Anmerkung: Woher der vierte Name im Titel kommt werden nur aufmerksame Zuschauer entdecken). Dem Publikum eröffnet der Film so ganz allmählich einen Blick auf Marthas Erlebnisse der letzten zwei Jahre und ihren massiven Problemen, sie zu verarbeiten.

Getragen wird der Film von Newcomerin Elizabeth Olsen, deren Spiel (in ihrem erst zweiten Film) zurückhaltend, aber trotzdem körperlich ausdrucksstark daher kommt. Wie so häufig hervorragend ist auch John Hawkes, der schon in „Winter’s Bone“ gezeigt hat, dass er zu den besten Charakterdarstellern zählt, die es im amerikanischen Independent-Kino zurzeit gibt. Er spielt Patrick als auf den ersten Blick fast unauffällige, sehr gewinnende Persönlichkeit und großen Manipulator, der seine Anhänger so fest in seinen Bann gezogen hat, dass sie nicht mehr von ihm loskommen. Das von ihm organisierte Leben auf der Farm ist geprägt von Rollenspielen, sexuellen Machtspielen und der Beschwörung des Gruppenzusammenhalts – der um jeden Preis gewahrt bleiben muss. Das Portrait dieser Sekte und ihrer Anziehungskraft auf unsichere junge Menschen ist überzeugend, weil Regisseur Durkin es nicht als reine Anklage inszeniert hat, sondern ganz aus der Perspektive von Martha selbst.

In dem luxuriösen Haus am See, in dem Martha mit Lucy und Ted ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen versucht, ist das Zusammenleben bald empfindlich gestört. Lucy, die deutlich älter ist, macht sich Vorwürfe, sich nicht genug um Martha gekümmert zu haben. Die wiederum will davon nichts wissen, erzählt ihrer Schwester auch nicht die Wahrheit darüber, wo sie die letzten zwei Jahre verbracht hat. Ted wiederum ist anfangs bemüht, später zunehmend genervt und frustriert von seiner Schwägerin, die einfach mal so nackt in den See springt oder sich zu den beiden ins Ehebett legt, während die gerade Sex haben.

Nicht nur für einen ersten Spielfilm ist „Martha Marcy May Marlene“ eine sehr ordentliche Leistung. Handwerklich und dramaturgisch macht der Film fast alles richtig, schauspielerisch ebenso. Lediglich in den Szenen, die in der Gegenwart spielen, fragt man sich manchmal, warum Lucy und Ted sich mit Marthas vagen Auskünften zu ihrem Verbleib zufrieden geben. Der Film lässt offen, wie Martha überhaupt so empfänglich für das abgeschiedene Leben in einer Sekte werden konnte, und warum die Beziehung der beiden Schwestern so schwierig ist. Überzeugen kann er trotz kleiner Mängel, sowohl als Portrait seiner Hauptfigur wie auch als stimmige und genaue Auseinandersetzung mit der Sekten-Thematik. Bis zur letzten Einstellung schwingt die im Film unheilvoll mit.

4/5