Gegen die Wand

Fatih Akin hat sich in Deutschland mit Filmen wie „Kurz und Schmerzlos“, „Im Juli“ und zuletzt „Solino“ einen guten Ruf als Regisseur erworben. Wie das nun mal mit mir und heimischen Produktionen so ist, habe ich bis zu seinem neuesten Streifen und Berlinale-Gewinner „Gegen die Wand“ keinen dieser Filme gesehen. Doch Akins neuestes Werk macht nicht schlecht lust, sich mit seinem bisherigen Schaffen auseinanderzusetzen.Cahit (Birol Ünel) ist ein in Hamburg lebender Türke von ca. 40 Jahren. Seine Arbeit in einer alternativen Musik-Spelunke bringt ihm das nötige Geld ein, um sich ohne Rücksicht auf Verluste seinem auf der Grenze zum Pennertum balancierenden Leben hingeben zu können. Grenzenloser Bierdurst und schwelender Selbsthass veranlassen ihn bald dazu, mit seinem Wagen frontal „Gegen die Wand“ zu fahren. Nach dem großen Knall findet er sich im Krankenhaus wieder, Abteilung für Suizid-Gefährdete. Dort trifft er die junge Sibel (Sibel Kekilli), die sich per Freitod aus den engen Fesseln ihrer traditionsbewussten Familie befreien wollte. Die durchweg chronologisch präsentierte Handlung ist eingebettet in eine immer wiederkehrende Szenerie vor der Kulisse Istanbuls, in der eine mehrköpfige Band mit Sängerin das Geschehen musikalisch-poetisch kommentiert.

Bald präsentiert Sibel dem verblüfften Cahit eine Lösung für beider Probleme – in erster Linie jedoch für ihr eigenes: Cahit muss Sibel heiraten. Ihre Eltern würden ihn als Ehemann akzeptieren, schließlich ist er Türke. Es wäre ja nur zum Schein, sie würde ihm keinen Ärger bereiten. Als der das ablehnt, greift Sibel zu drastischen Maßnahmen. Sie meint es bitter ernst mit ihrem Wunsch nach Freiheit, und so sagt Cahit doch noch zu. Erst muss natürlich noch hochoffiziell um ihre Hand angehalten werden, bevor die beiden ihr eigenwilliges Eheleben voller Partys und Drogen verwirklichen können.

Die erste Stunde des Films bietet neben der packenden Geschichte auch jede Menge Lacher. Mit sicherer Hand führt Akin sein (deutsches) Publikum in eine Welt, die es meist nur von Aussen kennt. Aus der Sicht von Cahit, der seine türkischen Wurzeln bis zur Grenze der Selbstverleugnung aufgegeben hat, ergibt sich ein buntes Bild von türkischer (Groß)Familie, Tradition und Lebensweise. Da ist Sibels großer Bruder, der seine Schwester in guten Händen wissen will und die Ehre der Familie im Auge hat, der strenge Vater und die pragmatische Mutter. Mittendrin ist Cahit ein Fremdling, weder religiös noch traditionsbewußt, dafür mit Hang zum Drogenkonsum und Alkohol-Exzessen.

Die wilde Ehe der beiden läuft bald aus dem Ruder. Sibel nutzt ihre neue Freiheit durch einige One-Night-Stands, während Cahit sich langsam in seine Angetraute verliebt. Es kommt zu einer Katastrophe, die die beiden für Jahre trennen wird.. Nach der intensiven, von lauter Musik, Sex und Gewalt geprägten ersten Stunde nimmt Akin ein wenig das Tempo raus. Die Handlung verlässt Hamburg mit einem Paukenschlag und konzentriert sich auf Sibels Leben in Istanbul, wo sie dem geregelten Dasein als Zimmermädchen bald überdrüssig ist und sich in alter Manier ins Nachtleben stürzt. Erst nach einigen Jahren trifft sie in der „fremden“ Heimat ihren Ehemann wieder und sie stellen sich den Dämonen ihrer Beziehung.

Cahits Besuch in Istanbul führt die Geschichte zu einem Ende, das nicht wirklich eines ist, ohne aber dabei einen faden Nachgeschmack zu hinterlassen. Glaubwürdig geht das Drama dieser sonderbaren und heftigen Beziehung in die letzte Runde. Wäre der Film hier nur ein paar Minuten länger wäre die Grenze zur Behäbigkeit vielleicht überschritten. „Gegen die Wand“ vermeidet es geschickt, angestrengt oder aufgesetzt zu wirken. Großen Anteil daran haben die Hauptdarsteller. Ünel, der teils aussieht wie eine rauhe Straßenversion von Jürgen Drews, ist eine großartige Besetzung für den wilden, vom Leben enttäuschten Cahit. Eindringlich kehrt er das Innerste seiner Figur nach aussen, ohne sich dabei der Lächerlichkeit preiszugeben. Seine Partnerin Kekilli, hier in ihrer ersten ernsthaften Rolle, haucht dem Film durch ihre ungekünstelte Art jede Menge Authenzität ein. Dass ihre eigene Lebensgeschichte der ihrer Figur nicht ganz unähnlich ist, war ihrer Darstellung sicher nicht abträglich.

Fatih Akin hat ein sehenswertes Stück Kino geschaffen und zurecht viele Lorbeeren dafür kassiert. Sein Film ist frisch, voller Energie und Ideen, ohne dabei seine Charaktere zu vergessen. Mit einem starken Gespür für große Szenen, einem scharfen Blick auf das Milieu und der richtigen Portion Humor erzählt er eine Geschichte, die leicht in einer Überportion Sozialkritik hätte ertrinken können. Sein kritischer Blick auf bestehende Verhältnisse regt trotzdem zum nachdenken an, was „Gegen die Wand? nur um so wertvoller macht.

9/10